Rede von Berthold Reiß, "Prototyp" am 15.09.2011

Ausstellungsansicht: Prototyp - Berthold Reiß, Agniezka Szostek, 2011

 

Der Begriff des Prototyps kann erläutert werden durch den Begriff des Gesetzes. Immanuel Kant spricht von „Prototyp“, wenn er von dem „Ideal der reinen Vernunft“ spricht. Anders als Platon sieht Kant in den Ideen nicht eine schöpferische, sondern eine praktische Kraft. Diese Unterscheidung geht aus der Beziehung der Ideen auf die Erfahrung von Lust und Unlust hervor. Ideen sind daher moralische Begriffe. Sie können aber zum „Beispiele reiner
Vernunftbegriffe“ dienen „in Ansehung des Prinzips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt“. Die „Kraft“ der Begriffe, von der Kant spricht, erwächst aus ihrer Bedingtheit durch Sinnlichkeit. Diese Sinnlichkeit ist gegeben als Erscheinung außer uns und als Lust oder Unlust in uns. Die Kraft der Begriffe besteht zum einen darin, das, was von außen andrängt, zu einen und zu ordnen. Sie bewährt sich zum anderen darin, das, was nach außen drängt, in allgemeinen und notwendigen Schranken zu halten. Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe endet mit der Rede von der Form, die unser Denken aller Erfahrung verleiht. Und wenn Kant von Ideen als reinen Vernunftbegriffen handelt, endet er erneut bei der Form, die wir selber uns geben. Der Verstand heißt endlich Gesetzgebung für die Natur. Die Vernunft heißt endlich Selbstgesetzgebung als unsere Antwort darauf, daß die Freiheit „an sich gesetzlos“ ist.

Meine Damen und Herren! In der zuletzt und zum zweiten Mal angeführten Rede von der an sich gesetzlosen Freiheit rührt Kant an eine Grenze. Ich behaupte, daß Kant in dieser Rede das Absolute negativ faßt. Das Absolute ist das, was von allen Bedingungen losgelöst und also frei ist. Kants Rede, daß die Freiheit an sich gesetzlos ist, entspricht der Rede, daß das Ding an sich = X ist. Die Frage nach dem Prototyp findet die Antwort: Der Prototyp ist die Freiheit als Beispiel dafür, daß der allgemeine Gegenstand unserer Erkenntnis = X ist.

Diese allgemeine Antwort kann nicht genügen. Denn der Prototyp ist ein Ende nur, indem er ein Anfang ist, niedergeschlagen in einer Form. Kant nennt moralische Begriffe Ideen „in Ansehung ihres Prinzips“, d. h. ihres Anfangs und „wenn man bloß auf ihre Form Acht hat“. Bereits in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe stellt Kant ein Prinzip vor, das geeignet ist, eine Form hervorzubringen. Diese Form ist auf der Ebene des Verstandes das, was wir Natur nennen. Die Aufgabe besteht darin, „in Ansehung eines Mannigfaltigen von Vorstellungen“ dieses Mannigfaltige „aus einer einzigen (Vorstellung) zu bestimmen.“ Diese Vorstellung findet Kant wie Descartes im Ich denke. Er nennt sie in seiner Sprache „die synthetische Einheit der Apperzeption“. Er zeichnet sie aber zugleich geometrisch als den „höchsten Punkt“, an den man den gesamten Begriff von einer Natur überhaupt „heften muß“. Ein Prinzip als Einheit des Mannigfaltigen hat sich hier niedergeschlagen in einer Form. Von selbst stellt sich in der Vorstellung ein Dreieck ein, dessen eine Spitze über der Mitte einer horizontalen Basis steht. Diese Form oder diese Figur ist die Zeichnung eines Bildes, und nicht das Gemälde eines beliebigen Dreiecks. Von Kant kann man mit dem gleichen Recht sagen, was Friedrich Wilhelm Joseph Schelling von Leibniz und zugleich von Spinoza gesagt hat: „Das von ihm gebrauchte Bild kommt auf das uralte der Emanation zurück.“ Emanation ist der Ausfluß von Allem aus Einem. Im dritten Jahrhundert n. Chr. läßt Plotin die Natur selber sagen, „daß mein Betrachten das Betrachtete hervorbringt, so wie die Mathematiker zeichnen, indem sie betrachten; und während ich freilich nicht zeichne, treten die Linien der Körper ins Dasein gleichsam wie ein Niederschlag.“

Spricht man von Prototyp, so spricht man immer von Prinzip und Form, Betrachten und Betrachtetem, Anfang und Ende. Der Prototyp als ein Urbild oder die Philosophie als Erinnerung aber ist bei Kant eingeschränkt auf den Gebrauch der antiken Sprachen und auf Beispiele aus der Antike, nicht zuletzt Platon. Aber ganz anders als Platon sieht Kant im Prototyp nicht das Vorbild von dem, was wir tun, sondern das Tun selbst, das zugleich mit seiner Regel erscheint. Daß die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt ist keine Erzählung, sondern ein Beweis für die Kraft der Begriffe. Das Tun stellt sich verschieden dar als Anwendung, als Handlung und als Darstellung. Naturbegriffe sind richtig, wenn man sie anwenden kann. Der Prototyp ist der Beweis. Er hebt ab oder er bleibt am Boden. Moralische Begriffe sind richtig, wenn man danach handeln kann. Die Autonomie ist Prototyp, wenn sie Beweis ist. Man kann sich selbst Gesetze geben oder man kann in Freiheit nicht leben. Drittens spricht Kant nur akademisch vom Ideal der reinen Vernunft. Unterhalb dieses Titels besteht dieses Ideal nur, wenn man es darstellen kann. Das heißt, ich habe nichts in der Hand als den Vortrag selbst, wenn ich auch nur sagen soll, daß der Prototyp existiert. Jeder kennt technische Prototypen. Von einem praktischen Prototyp kann man, wenn man will, sprechen. Der Prototyp selbst aber ruht auf keiner Bedingung. Solange er Urbild war, konnte man sich im schlimmsten Fall an ein schöpferisches Chaos erinnern. Sobald er aber Beweis ist, kann er nur ein für alle Mal seine eigene Unmöglichkeit sein. Unter dem erbaulichen Titel „Das Ideal der reinen Vernunft“ handelt Kant im vierten Abschnitt „Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises“, im fünften Abschnitt „Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises“ und im sechsten Abschnitt „Von der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises“. Der einzige Beweis, der stehen bleibt, ist das Faktum, daß die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt. Die Kritik der praktischen Vernunft beginnt mit diesem Faktum als dem „Faktum der Vernunft“. Die Kritik der reinen Vernunft endet, indem diese Form das Absolute negativ faßt.

Kant spricht nicht davon, was ist, sondern von dem, was sein soll. Daher ist Prototyp als Idee nicht Urbild, sondern Beweis, ein Anfang, der freilich gesetzt ist, eine erste Form. Ich habe damit begonnen, den Prototyp durch das Gesetz zu erläutern. Kant führt aber aus, daß moralische Begriffe „in Ansehung des Prinzips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schanken setzt (also wenn man bloß auf ihre Form Acht hat) gar wohl zum Beispiele reiner Vernunftbegriffe dienen“ können. Moralische Begriffe heißen hier Beispiel reiner Vernunftbegriffe. Der Begriff des Prototyps als Beweis legt aber nahe, umgekehrt alle Vernunftbegriffe aus dem Gesetz abzuleiten. Denn dieser Begriff der Vernunft ist der einzige Begriff der Vernunft, mit dem wir etwas anfangen können. Treibt´s nicht zu weit! und noch besser: Fangt gar nicht erst an! Man kann sich diesen Reim auf Kants Rede machen.

In derselben Rede spricht Kant jedoch von einer neuen Welt. Die Vernunft ruft ihre Grenze im Unbegrenzten hervor. Der Mensch tut gut daran, bloß auf die Form Acht zu haben. Im zweiten Abschnitt führt Kant aus, daß von Schranken nicht die Rede sein könnte, „wenn nicht das Unbeschränkte (das All) zum Grunde läge.“ So scheint die Vernunft unendlich weiter zu reichen, als das Wenige, womit wir etwas anfangen können. Die reine Vernunft scheint jene gesetzlose Freiheit zu sein, indem die Schranken, die für uns Verneinungen sind, für die Vernunft Bejahungen sind.

Dieser Unterscheidung entsprechend hat Schelling in München eine negative, bloß einschränkende, und eine positive, beweisende Philosophie unterschieden. Wenn wir der Maxime folgen, bloß auf die Form Acht zu haben, finden wir im zweiten Abschnitt die Rede, daß sich die Form zu ihrem Prinzip „genau zu reden“ nicht als deren Einschränkung verhält. Diese genaue Rede wäre der Prototyp als Beweis. Georg Wilhelm Friedrich Hegel nennt die Form „eine thätige Emanation oder Selbstproduktion des Princips“. Diese „Konstruktion“ knickt genau in ihrer Mitte ein, da Hegel die Aufgabe darin sieht, „die scheinbare Entgegensetzung des transcendentalen Bewußtseyns und des empirischen aufzuheben“, d. h. in unserem Zusammenhang Vernunft und Mensch nicht mehr zu unterscheiden. Die einzige mögliche Aufhebung wäre der absolute Staat, in dem zwischen Gesetz und Mensch keine Differenz mehr besteht. Die „Kraft“ der Begriffe, von der Kant spricht, erwächst im Unterschied dazu aus ihrer Bedingtheit durch die Erfahrung, die, so weit sie gegeben ist, sinnlich ist. Ohne eine Mannigfaltigkeit der Erscheinung gäbe es keine Wissenschaft. Ohne Lust und Unlust gäbe es keine Moral. Und so gäbe es keinen Weltentwurf ohne Geschichte. Hegel spricht von Emanation. Aber kommt diese Rede zurück auf das uralte Bild?

In der Rede vom Prototyp und vom Faktum der Vernunft gebraucht Immanuel Kant die Sprachen der Griechen und Römer, weil er selbst die Welt neu entwirft. Es scheint mir angemessen, den Vortrag mit einem Beispiel aus der alten Geschichte zu beschließen.

Am 2. August 216 v. Chr. hatte Hannibal bei Cannae in Unteritalien acht römische Legionen geschlagen. An einem Tag waren 50 000 Römer und ein Consul gefallen. In dem Bericht von Titus Livius ist die Rede von der Haltung, mit der die römische Republik dieser schwersten Niederlage ihrer Geschichte entgegentrat: „Romanos praeter insitam industriam animi(s) fortuna ... cunctari prohibebat.“ Außer ihrer angeborenen Tatkraft des Herzens hielt das Schicksal die Römer davon ab, zu zögern. Es ist also das Schicksal, das die Tatkraft des Herzens hervortreten läßt.

Berthold Reiß